Als mich eine Nachricht erreichte, dass junge Erwachsene gesucht werden, welche mit in die Schweiz fahren würden, um dort an einem internationalen Marfan-Treffen teilzunehmen, sagte ich sofort zu. Mir wurde zugesichert, dass die Fahrt und Unterkunft bezahlt werden würden. So fuhr ich am 5. September von Bremen nach Zürich. Ich war sehr aufgeregt, da ich nicht wusste, was mich erwarten würde, und ich fragte mich, ob meine Englischkenntnisse ausreichen würden, um mich dort zu unterhalten.

Die Unterkunft war pompös! Jeder bekam sein eigenes Zimmer mit Doppelbett und eigener Minibar. Das Essen bestand morgens aus einem Büffet, mittags einem Drei-Gänge-Menü und abends dann nochmal einem Vier-Gänge-Menü. Die Unterkunft verfügte über eine eigene Bowlingbahn, auch Fitness und Wellness konnte man besuchen. Trinken und Snacks standen jederzeit bereit.

Als ich ankam, wurde ich sofort nach draußen auf eine wunderschöne Terrasse geführt. Dort saßen sechs junge Erwachsene im Alter von 18-29 Jahren, vier von ihnen aus der Schweiz, einer aus Frankreich und eine Norwegerin. In meinen vorherigen Überlegungen hatte ich immer gedacht, dass Marfan-Leute eher vorsichtige Menschen seien und auf viele Dinge verzichten würden. Ich war dann etwas erstaunt, als einer von seiner einjährigen Weltreise erzählte. Die Geschichten zeugten von unglaublicher Abenteuerlust, und ich bin immer noch der Ansicht, dass der Erzähler ein Buch darüber verfassen sollte. Ein Anderer erzählte über seine Faszination für das Paragliding. Es war schnell klar, dass wir uns alle zwar einschränken müssen bei bestimmten Dingen, aber doch selbst gucken müssen, was uns wichtig ist. Wir redeten noch darüber, wer wann die Diagnose Marfan bekommen hatte. Alle, bis auf mich, hatten diese Diagnose schon bei ihrer Geburt bekommen und waren damit aufgewachsen. In meiner Familie gab es Probleme, uns einzuordnen. Erst nach einem Gentest vor zwei Jahren kam heraus, dass wir das atypische Marfan-Syndrom haben, eher bekannt als Loeys-Dietz-Syndrom.

Abends, nach dem Festmahl, fuhren wir runter in die Stadt und gingen in einen Biergarten, welcher direkt am Wasser gelegen war. Wir redeten über Vorurteile, welche einem begegnen, wenn man aus einem bestimmten Land kommt. Ich zum Beispiel komme aus Deutschland, mag aber kein Bier und die Schweizerin aus unserer Gruppe mag keinen Käse. Sind wir deswegen weniger deutsch/schweizerisch?

Nach einem ausführlichen Frühstück am nächsten Tag trafen wir uns mit einer Ergotherapeutin und einem Arzt (beide aus Norwegen), um über das Leben mit Marfan zu sprechen. Schwierige Themen wie Ethik und Lebensqualität beschäftigten uns. Wir einigten uns darauf, dass man Lebensqualität nicht messen kann. Genetische Tests, welche alle Gene entschlüsseln können, hielten wir für überflüssig. Wenn man danach weiß, dass man mit einer bestimmten prozentualen Wahrscheinlichkeit z.B. Brustkrebs bekommen würde, dann könnte das einen doch verrückt machen. Es kann ja trotzdem passieren, dass es gar nicht eintritt.

Am Nachmittag lauschten wir einigen medizinischen Vorträgen, welche die Augen, Psychologie und die Lunge thematisierten. Die Referenten kamen aus den USA, Norwegen und der Schweiz. Die Vorträge waren auf Englisch, es bestand aber die Möglichkeit eine deutsche, französische oder italienische Übersetzung zu bekommen. Fragen waren direkt nach den Vorträgen, aber auch später im Vier-Augen-Gespräch möglich. Das Resümee vieler Vorträge war, dass weitere Studien nötig sind, um bessere Aussagen über das Marfan-Syndrom machen zu können. Besonders interessant fand ich die Vorträge über die Lunge und ihre Deformationen, weil mich dieses persönlich betrifft. In den Pausen zwischen den Vorträgen tauschten wir uns untereinander über die Themen der Vorträge aus. Wir redeten über vollzogene Operationen, die wir alle schon hatten.

Abends probierten wir die Bowlingbahnen aus. Wir teilten uns auf, sodass beide Bahnen bespielt wurden. Besonderen Spaß hatten wir, als die eine Bowlingbahn streikte und zwei von den Jungen sich sehr darum bemühten sie wieder in Gang zu setzen. Die Motivation war enorm, der Erfolg eher gering.

Am nächsten Tag waren wir alle etwas müde, versuchten uns aber wieder auf die Vorträge zu konzentrieren. Es war eigentlich nicht unsere Pflicht dieses zu tun, aber wir hatten einfach großes Interesse an den Themen Aorta und Schwangerschaft. Als Resümee für mich ziehe ich aus den Vorträgen, dass man sich wirklich regelmäßig und ausführlich beim Arzt untersuchen lassen sollte und eine Schwangerschaft mit Marfan möglich, aber mit vielen Kontrollen verbunden ist.

Nachmittags wurden die Themen Orthopädie, Sport und Schmerzen behandelt. Danach wurden verschiedene auf Marfan spezialisierte Kliniken (Gent, Hamburg, Bern, Stanford) vorgestellt. Ich unterhielt mich mit dem Doktor aus Bern über die Diagnose Loeys-Dietz und ob es eine gute Idee ist, damit in der Marfan-Gruppe zu sein. Er bejahte diese Frage und versicherte mir großen Nutzen, auch wenn es Unterschiede in den beiden Erbkrankheiten gibt, die Symptome wären sehr ähnlich. Danach war ich sehr erleichtert.

Später gab es einen Umtrunk und wir, die jungen Erwachsenen, hatten noch ein „Fotoshooting“. Das machte uns allen sehr viel Freude. Wir probierten verschiedene Orte und Posen aus. Besonders gut gefiel uns das Foto in der Raucherlounge. Wir saßen auf den Sofas und einer von uns, welcher nicht mehr drauf passte, war im Spiegel zu sehen, wie in einem Portrait. Zusammen gingen wir danach wieder zur Bowlingbahn und wir merkten, dass die meisten sich verbessert hatten. Übung macht den Meister! Im Anschluss fuhren wir noch in die Innenstadt von Zürich, um dort etwas trinken zu gehen. Das Wetter war sehr diesig, und wir fanden Zuflucht in einer geräumigen Telefonzelle, welche Musik spielte. Wir machten trotz des Regens noch einen Spaziergang. Der See und die vielen Brücken erinnerten mich an Venedig. Zürich war total schön, trotz des schlechten Wetters. Als wir genug davon hatten, setzten wir uns in ein Lokal und der Kameramann, welcher die Vorträge für die Marfan-Webseite aufgenommen hatte, gab uns Getränke aus. Ich bekam das Gefühl, dass Schweizer großzügiger als Deutsche sind. Ich wurde nämlich ständig eingeladen. Das Lokal beinhaltete auch eine Tanzfläche, auf welcher sich noch einige von uns austobten.

Am nächsten Morgen fiel es schwer, aufzustehen. Wir sollten uns eine kleine Präsentation überlegen, welche unsere Ergebnisse darstellen sollte. Unsere Präsentation stand unter dem Motto: „Please, help yourself“. Dieses hatten wir nämlich ständig an diesem Wochenende auf Schildern lesen können und betraf Snacks und Getränke. Wir fanden, dass der Spruch zwei Seiten beinhaltet:

  • bediene dich, nimm dir das, was du brauchst (vielleicht auch an Informationen und Begegnungen) und
  • hilf dir selber, denn jeder ist für sich und sein Leben verantwortlich.

Für uns war es ganz klar, dass wir uns bald wieder treffen wollten, weil wir uns so gut verstanden hatten. Wenn man eine seltene Erbkrankheit hat, dann verbindet einen das. Zum Abschluss der Präsentation hielten wir Schilder hoch auf denen stand: „Victory is...“ Hier hatten wir alle uns einen eigenen Spruch ausgedacht, meiner war: „Victory is to know that there are others“. Mir fällt es nämlich viel leichter mit meiner Krankheit umzugehen, seitdem ich weiß, dass es noch andere gibt, die ähnliche Probleme haben wie ich. Wir verabschiedeten uns mit dem Spruch: „Please, help yourself!“

/ M. K.