Nach Information aus der Uniklinik gelte ich als einer der ältesten klinisch bekannten Loeys-Dietz-Patienten. Ich begehe jedes Jahr am 28. Juni meinen zweiten Geburtstag und das kam so: Meine damalige Lebensgefährtin und ich hatten für uns und unsere kleine Tochter (damals 1 Jahr alt) eine Wohnung gekauft, der Umzug war angesagt und fand am 28.06.1988 statt. Für die großen und schweren Dinge hatten wir ein Umzugsunternehmen engagiert, aber an meine Stereo-Anlage und zerbrechliche Kleinteile habe ich schon damals niemanden herangelassen. Leider musste alles in die 3. Etage.
Kaum hatte ich den für mich wohl letzten Transportgang bewältigt (ich weiß noch, es war eine damals angesagte Designer-Stehlampe), durchfuhr mich ein unbeschreibliches Gefühl. Von der Brust abwärts war es, als rauschte ein dicker Stein durch mich und stoppte in der Magengegend. Ein heftiger pulsierender Bauchschmerz blieb. Ratlos stand ich da, die Umzugs-Packer wunderten sich über meine plötzlich hinfällige Erscheinung. Meine Lebensgefährtin und die befreundeten Umzugshelfer waren noch in der alten Wohnung, zum Glück in der Nähe. Da quälte ich mich nun hin und die Frage war, was tun? Es war ein Mittwochnachmittag, die Arztpraxen hatten geschlossen. Vielleicht zu meinem Glück, denn nun riefen wir einen Notarzt, und es kam jemand, der neben der Notdienst-Bereitschaft in der Uniklinik arbeitete.
Er machte eine sorgfältige Anamnese und hierdurch war dann auch Thema, dass mein 1,5 Jahre älterer Bruder drei Jahre zuvor nach einer Ruptur der Aorta verstorben war. Als Ursache hierfür war mir lediglich die Diagnose "idiopathische Media-Nekrose" im Gedächtnis geblieben. Er untersuchte mich sorgfältig und meinte, Anzeichen für eine Herzklappeninsuffizienz festzustellen. Sofort veranlasste er einen Rettungstransport in die Uniklinik.
Dort erfolgte intensive Diagnostik, meine Bauchschmerzen quälten mich weiter. So nebenbei fragte einer der Ärzte nach meinem Beruf. "Rechtsanwalt" antworte ich wahrheitsgemäß. "Auch das noch", war die Antwort. Man bemühte sich um Entspannung und ein bereits anwesender Anästhesist gab mir freundlicherweise eine Spritze zur Linderung meiner Schmerzen. Ich bekam dann noch mit, wie der mittlerweile (mit Team) eingeschaltete Operateur der Bereitschaft (es war inzwischen Abend) mitteilte, dass man nun soweit sei. Dann war ich weg und wachte erst am nächsten Morgen mit völlig unklaren Gefühlen wieder auf. Stück für Stück wurde mir dann erläutert, was mir passiert war. Ich hatte eine Dissektion der Aorta und mir wurde deshalb eine (mechanische) Aortenklappe, verbunden mit einer Prothese der aufsteigenden Aorta eingesetzt. Es sei gerade noch mal alles gut gegangen.
Ähnlich äußerte sich dann auch der zuständige Oberarzt bei der ersten Visite, die dann auf der Normalstation stattfand. Verbunden mit der Unart vieler Ärzte, die Patienten nicht mit Namen anzusprechen, sondern mit der Diagnose - ich war "die Dissektion" -, sagte er nur, dass ich richtig Glück gehabt hätte. Dafür bin ich den Ärzten bis heute dankbar. Ich wusste nun auch, dass ich (und sicher auch mein verstorbener Bruder) das sogenannte Marfan-Syndrom habe. Mir fiel ein, dass auch mein Vater etwa ein Jahr vor seinem frühen Tod im Jahr 1960 mit 49 Jahren an der Bauch-Aorta operiert worden war. Auch die beiden Kinder meines verstorbenen Bruders sind hiervon betroffen, meine Tochter glücklicherweise nicht.
Die Ärzte der Uni-Klinik, es waren sehr bekannte Operateure, hatten auch in der folgenden Zeit viel mit mir zu tun, da sich die Dissektion über nahezu den gesamten Verlauf der Aorta erstreckte. Es hatte sich ein zweites Lumen gebildet. Daher prophezeite mir der Oberarzt bereits zum Abschluss meines Klinikaufenthalts, dass ich wohl spätestens in fünf Jahren wiederkommen müsste.
Es wurden dann nur vier Jahre. Natürlich auch wieder zu unpassendem Zeitpunkt. Ein Wochenendurlaub in Hamburg mit schönem Essen endete damit, dass ich plötzlich ein unklares Gefühl in der Brust und heftige Schmerzen im Nacken verspürte. Als ob mir jemand im Puls-Rhythmus Handkantenschläge verpassen würde. Es folgte eine Odyssee durchs nächtliche Hamburg auf der Suche nach einem Krankenhaus, das meine heftigen Beschwerden richtig zu diagnostizieren wusste. Ohne Erfolg, aber das konnte ich umgehend am nächsten Tag in meiner Heimatstadt nachholen. Zum Glück hatten die Schmerzen nachgelassen. Man schickte mich zum CT und angesichts der hierbei festgestellten Ausweitung der absteigenden Aorta wurde der nächste Klinikaufenthalt fixiert.
Es wurde eine ziemlich lange Krankenhaus-Tournee. In drei Abschnitten wurde die natürliche Aorta durch Prothesen ersetzt. Damit ich die für die jeweilige OP erforderliche Kondition bekam, folgte jeweils ein Aufenthalt in einem anderen Krankenhaus. Die Ärzte beider Kliniken arbeiteten hierbei ausgezeichnet zusammen. Nach der dritten OP folgte dann eine Anschlussheilbehandlung. Bereits nach kurzer Zeit plagten mich dort wiederum pulsierende Schmerzen, diesmal im Bereich der Lendenwirbelsäule. Leider wurde ich abends lediglich vor die Alternative gestellt, entweder starke Schmerz- oder Schlaftabletten zu nehmen. „Das wird schon", versuchte mich der damalige Chefarzt zu beruhigen. Glücklicherweise nahm sich der zuständige Arzt bei der Abschlussuntersuchung nach drei Wochen unbefriedigender Rehabilitation mehr Zeit und stellte fest, dass die Prothese undicht war. Sofort ging es wieder zurück in die Uniklinik.
Eine vierte Operation in Reihe stand nun an. Wie ich später dem OP-Bericht entnehmen konnte, hatte sich ein Faden gelöst. Informiert wurde ich hierüber nicht. Weil ich Rechtsanwalt war? Wie ich auch später einmal bei einem Versuch, eine Mietwohnung zu bekommen, erfahren musste, herrscht ja oft der Eindruck vor, dass Menschen mit diesem Beruf streitsüchtig sind. Als ob es nicht reichen würde, beruflich mit Streitfällen zu tun zu haben! Immerhin, meine berufliche Auszeit verlängerte sich wiederum um ein paar Wochen, aber auf die Idee, mich mit Ärzten anzulegen, die mir das Leben gerettet haben, wäre ich nie gekommen.
Glücklicherweise hatte ich auch beruflich eine sehr günstige Konstellation. Ich arbeitete in einer Zweier-Sozietät mit einem Kollegen zusammen, der mir solidarisch zur Seite stand. Schließlich war ich insgesamt fast ein halbes Jahr abwesend und konnte allenfalls bei schwierigen Fällen im Hintergrund agieren. Einem Zimmernachbarn im Krankenhaus bin ich hierdurch ziemlich auf die Nerven gegangen. Wir haben uns dann aber auch wieder vertragen.
Fünf Jahre später war es dann wieder soweit. Der verbliebene Rest der Aorta - der Bogen - war nun auch zu weit gedehnt und musste ersetzt werden. Mittlerweile hatte der Chefarzt der Herz- und Thoraxchirurgie gewechselt. Der ehemalige Oberarzt hat mir in einer äußerst komplizierten OP das Weiterleben ermöglicht.
Leider wurde hierbei mein Recurrenz-Nerv beschädigt, sodass ich seitdem eine einseitige Stimmband-Lähmung habe. Besonders bei Angelegenheiten, die längeres Sprechen erfordern, wie z.B. bei Beurkundungen (ich war mittlerweile auch als Notar tätig) oder längeren Gerichtsverhandlungen war dies für mich recht beschwerlich, weil anstrengend und mit zunehmender Heiserkeit verbunden. Auch kann ich nicht mehr richtig singen, was ich eigentlich immer (in verschiedenen Chören) gemacht habe. Allerdings bin ich in meinem letzten Chor immer noch gut gelitten, da ich die Töne zumindest noch kenne.
Diese Stimmband-Lähmung verschaffte mir allerdings auch für einige Wochen interessante Erfahrungen. Etwa vier Wochen lang konnte ich nur flüstern, meine Stimme war tonlos. Aber das geht, auch telefonieren mit dem Festnetz war möglich. Smartphones gab es ja noch nicht in 1997. Beim Einkaufen allerdings wurde es interessant, ich hatte das Gefühl, durch mein Flüstern bei der Bestellung als geistig beschränkt angesehen zu werden. Eine merkwürde Stimmung prägte den Verkaufstresen.
Da ich auch in der „Stimmbildungszeit" wieder meinem Beruf nachging, hatte ich sowohl im Büro als auch im Gericht interessante - aber durchweg positive - Begegnungen. Anwaltskollegen hielten sofort den Mund, wenn ich etwas sagen wollte (Anwälte tun sich damit häufig schwer). Lediglich einige gefielen sich darin, als meine Stimme sich zunächst sehr kratzig wieder meldete, mich über heftige Gelage des Vorabends ausfragen zu wollen. Aber auch das ging vorüber.
Die Aorta war nun komplett ersetzt, was aber leider nicht bedeutet hat, mit Klinikaufenthalten „durch" zu sein. Wiederholt sind in den Folgejahren kleinere Eingriffe an den Gefäßen nötig gewesen, da sich an den Prothesenübergängen Aneurysmen und im Zusammenhang mit einer abgeklemmten Arterie auch eine Aussackung gebildet hatten, aber Sorgen hatte ich hierbei nie.
Für mich war es im Nachhinein von existenzieller Bedeutung, dass ich im Zusammenhang mit der ersten Operation nichts zu entscheiden hatte, das Ärzte-Team handelte und tat alles Notwendige. Dies verschaffte mir ein Grundvertrauen in die Klinik, und zum Glück wohne ich ja in der Landeshauptstadt. Bedingt durch meine häufigen Aufenthalte in der Uniklinik und verbunden mit den leider auch bei meinem Neffen und meiner Nichte erforderlichen Operationen, ist unser Name in der Klinik nicht unbekannt, und irgendwie war ich mir immer der schützenden Hand des Professors gewiss.
Seit 2006 weiß ich allerdings, dass ich gar kein Betroffener des Marfan-Sydroms bin. Durch eine humangenetische Untersuchung wurde festgestellt, dass ich wie auch meine Nichte und mein Neffe, das Loeys-Dietz-Syndrom habe. Schon häufig hatte ich mich ja gefragt, ob mein gespaltenes Zäpfchen irgendeine Bedeutung haben könnte. Nun weiß ich es, häufig haben es LDS-Betroffene.
Allerdings wiederholen sich jetzt meine Erfahrungen aus der Zeit nach meiner ersten Operation, was die Kenntnis der Ärzte von meiner Krankheit angeht. War es noch Ende der achtziger Jahre das Marfan-Syndrom, was den Griff nach dem medizinischen Wörterbuch auslöste, so ist es jetzt das Loeys-Dietz-Syndrom. Das allerdings kann man wohl auch keinem Arzt übelnehmen.
Mein Berufsleben habe ich nun seit 1,5 Jahren hinter mir. Die diversen gesundheitlichen Einschränkungen haben mir zwar einen GdB von 80 beschert, aber ich bin nie auf die Idee gekommen, mich deshalb frühzeitig in den Ruhestand zu begeben. Meine Selbständigkeit war hierbei von Vorteil, da ich natürlich über längere Zeit nicht mehr mit voller Kraft arbeiten konnte. Und lästig war es schon, sich häufig der Frage (auch von Ärzten) z.B. im Zusammenhang mit dem Erwerb von Fachanwaltsqualifikationen stellen zu müssen, weshalb ich mich denn noch immer weiter qualifizieren wollte. Ich sollte doch angesichts meiner medizinischen Probleme mit dem Erreichten zufrieden sein.
Wenn ich Arztbriefe nach Krankenhausaufenthalten lese, sieht es schon etwas gruselig aus, was da alles mit dem Vorsatz „Zustand nach..." so steht. Allerdings hat mich in meiner konkreten Lebenssituation keine der vielen LDS-bedingten Operationen so beeinträchtigt, wie die relativ harmlosen Eingriffe im urologischen Bereich, die ich nun infolge einer Strahlentherapie bei einem Prostata-Karzinom seit einiger Zeit aushalten muss. Die Folgen im Alltag sind wesentlich gravierender. Von den Gefahren im Zusammenhang mit einer Herz- oder Gefäßoperation bekommt man ja außer dem Aufklärungsgespräch vor der OP zum Glück nichts mit. Wichtig ist, wenn vor der jeweiligen OP das Vertrauen zu den behandelnden Ärzten vorhanden ist. So bin ich bisher ganz gut durchgekommen.
/ J. K.