Revidierte diagnostische Kriterien für das Marfan-Syndrom (Gent 1996)
- Details
Die Diagnose Marfan-Syndrom kann gestellt werden, wenn:
- Hauptkriterien in zwei Organsystemen vorhanden sind und ein drittes Organsystem beteiligt ist; oder
- Wenn eine FBN1-Mutation nachgewiesen wird, welche bei einem anderen Patienten / einer anderen Patientin mit einem eindeutigen Marfan-Syndrom assoziiert ist. Dann muss ein Hauptkriterium vorhanden und ein weiteres Organsystem beteiligt sein, oder
- Wenn ein Verwandter des/der Betroffenen ein Marfan-Syndrom nach Punkt 1. aufweist, dann muss ein Hauptkriterium vorhanden und ein weiteres Organsystem beteiligt sein.
Hauptkriterien:
A. Skelettales System
Das Vorhandensein von mindestens vier der folgenden skelettalen Manifestationen:
- Kielbrust
- Trichterbrust, die operationspflichtig ist
- Herabgesetztes Verhältnis von Oberlänge zu Unterlänge (unter 0,85) oder Verhältnis von Armspanne zu Körperlänge größer als 1,05;
- positives Handgelenk- und Daumenzeichen;
- Skoliose mit Cobb-Winkel größer als 20 Grad oder Wirbelgleiten
- Eingeschränkte Extension der Ellenbogen (kleiner als 170 Grad)
- Mediale Verschiebung des medialen Knöchels mit resultierendem Plattfuß;
- Protrusio acetabuli (röntgenologisch gesichert)
B. Okulares System
• Verschiebung der Linse (Ectopia lentis), einseitig oder doppelseitig
C. Herz- und Gefäßsystem
- Dilatation der aufsteigenden Aorta (Aorta ascendens) mit oder ohne Aorteninsuffizienz. Die Dilatation muss mindestens den Bereich der Sinus valsalvae betreffen oder
- Dissektion (Aufspaltung) der aufsteigenden Aorta;
D. Lumbosakrale Duralektasie (Vorfall der Dura im Bereich von Kreuzbein und Steißbein),
• Nachweis durch CT oder MRT
E. Genetik und Familienvorgeschichte:
- Ein Verwandter / eine Verwandte ersten Grades, der unabhängig von der betroffenen Person diese Kriterien erfüllt oder
- der Nachweis einer FBN 1-Mutation, die bekanntermaßen das Marfan-Syndrom verursachen kann; oder
- der Nachweis eines in der Familie der Patient:innen an das Marfan-Syndrom gekoppelten Haplotyps;
Nebenkriterien
Um auf die Beteiligung eines Organsystems schließen zu dürfen, müssen folgende Haupt- und Nebenkriterien vorhanden sein:
F. Skelettales System:
Zwei der oben unter Punkt A aufgeführten Merkmale oder eines dieser Merkmale und mindestens zwei der folgenden Nebenkriterien müssen vorhanden sein:
- Mäßig ausgeprägte Trichterbrust
- Gelenküberbeweglichkeit
- Hoher, schmaler (“gotischer”) Gaumen mit Staffelstellung der Zähne;
- Typisches Aussehen: schmaler Schädel (Dolichozephalie), Unterentwicklung der Wangenknochen (Malarhypoplasie) , eingefallene Augen (Enophthalmus), Unterkiefer-Rücklage (Retrognathie), antimongoloide Lidachse;
G. Augen
Für die Einbeziehung müssen zumindest zwei der Nebenkriterien vorhanden sein:
- Abnormal flache Hornhaut (Nachweis durch Keratometrie, Hornhautmessung)
- Vergrößerte axiale Länge des Augapfels (sonographisch gemessen)
- Hypoplastische Iris oder hyperplastischer Musculus ciliaris mit eingeschränkter Fähigkeit zur Verengung der Pupille.
H. Herz- und Gefäßsystem
Für die Einbeziehung des Herz- und Gefäßsystems muss mindestens eines der folgenden Merkmale vorliegen:
- Mitralklappenprolaps (Vorfall) mit oder ohne Mitralinsuffizienz (Blutrückfluss)
- Ausweitung der Lungen-Hauptschlagader ohne gleichzeitige Pulmonalklappenstenose (Verengung) oder periphere Pulmonalstenose oder einen anderen Grund,
- unterhalb der Altersgrenze von 40 Jahren, oder
- Erweiterung (Dilatation) oder Aufspaltung (Dissektion) der absteigenden Brust- oder Bauchaorta unterhalb der Altersgrenze von 50 Jahren
I. Lungen
Für die Einbeziehung des Pulmonalsystems muss eines der Nebenkriterien vorhanden sein:
- Spontan auftretender Pneumothorax;
- Blasenbildung in den Lungenspitzen (Apikale Blebs)
J. Haut und tiefer liegendes Gewebe
Für die Einbeziehung des Herz- und Gefäßsystems muss mindestens eines der folgenden Merkmale vorliegen:
- Dehnungstreifen der Haut (Striae atrophicae) ohne gleichzeitig merkbare Gewichtsveränderungen oder Schwangerschaft;
- Rezidivierende Hernien (Eingeweidebrüche) oder Inzisionshernien;
Differentialdiagnose
Folgende Krankheitsbilder, die sich teilweise mit dem Marfan-Syndrom überlappen, stellen gesonderte Krankheiten dar:
- Kongenitale kontrakturelle Arachnodaktylie (CCA), Beals-Hecht-Syndrom;
- Familiäres thorakales Aortenaneurysma;
- Familiäre Aortendissektion;
- Familiäre Ektopia lentis;
- Familiärer marfanoider Habitus;
- MASS-Syndrom (Myopie, Mitralklappenprolaps, geringe Aortenerweiterung, Hautstreifen und Skelettbeteiligung)
- Familiäres Mitralklappenprolaps-Syndrom
- Stickler-Syndrom (hereditäre Arthro-Ophthalmopathie)
Anmerkung:
• Das Shprintzen-Goldberg Syndrom wurde nach Veröffentlichung der Nosologie aus der Liste der Differentialdiagnosen entfernt.
• Das „Neonatale Marfan-Syndrom“ ist eine weitere Differentialdiagnose.
Revision der diagnostischen Kriterien für das Marfan-Syndrom und die verwandten Krankheiten. Diese können zusammengefasst als „Mikrofibrillopathien” bezeichnet werden.
REVISED DIAGNOSTIC CRITERIA FOR THE MARFAN SYNDROME: Anne de Paepe (Gent, Belgien), Richard B. Devereux (New York, USA), Harry C. Dietz (Baltimore, USA)Raoul C.M. Hennekam (Amsterdam, Niederlande) and Reed E. Pyeritz (Pittsburgh, USA); American Journal of Medical Genetics 1996; 62:417-426
Diese Kriterien stellen eine Überarbeitung der „Berliner Nosologie“ von 1986 dar: Beighton et al., American Journal of Medical Genetics 1988; 29:581-594